Dienstag, 30. April 2013

... in einem Vaszary geblättert #2

Zerschlagen und mit einem bitteren Mundgeschmack erwache ich am frühen Morgen, da der Zug stockt und hält. Einzelne Menschen laufen in das Bahnhofsgebäude, um einen heißen Kaffee zu trinken. Mein Bruder Paul schläft. Auch ich steige aus, um mich ein bißchen umzusehen. Jemand sagte, wir hätten eine halbe Stunde Aufenthalt.

Das war vor kaum zwei Minuten, und als ich nun vom Ende des Bahnhofs zurückblickte, sah ich, daß sich der Zug in Bewegung setzte. In der ersten Sekunde war ich förmlich zu Stein erstarrt, dann begann ich zu röcheln, aber schon in der nächsten Sekunde lief ich wie ein Besessener hinter dem Zuge her.

Als ich so zwischen den Schienen entlang galoppierte, sprang ein Beamter vor mich hin, erfasste meinen Arm und begann mit mir zu ringen, nur um mich ins größte Elend zu stürzen, auf fremden Boden, ohne Gepäck und Geld. Ich stieß ihn mit meiner ganzen Kraft beiseite. Da griff er abermals nach mir, worauf ich einen mächtigen Satz machte und es mir in der allerletzten Minute gelang, den Schlußwagen des Zuges zu erklimmen.

Früh am Morgen und so eine Schweinerei.

In der ersten Minute dachte ich, dass ich mein Abteil nur infolge der starken Nervenerschütterung nicht fände, als ich aber das zweite Mal in jedes vorhandene Abteil schaute, bemächtigte sich meiner ein noch entsetzlicheres Gefühl. Nirgends ein bekanntes Gesicht.

Dieser Zug war mir schon vorher so verdächtig erschienen. Als ob unsere Lokomotive in der entgegengesetzten Richtung gestanden hätte. Gütiger Gott! Ich gehöre ja gar nicht hierher.

Der Zug bremst plötzlich und hält. Wir halten auf offener Strecke. Nichts wie runter.

Als ich noch Umschau halte, wo ich mich denn eigentlich befinde, da bemerkt mich ein Schaffner oder so etwas Ähnliches, springt vom Zug und rennt gestikulierend auch mich zu. Das genügt mir. Ich renne aufs freie Feld. Er hinter mir her. Vom Feld mache ich wieder einen Bogen zum Bahndamm. Da setzt sich der Zug auch schon wieder in Bewegung. Ich wie ein Besessener hinterher und rein. All das in den frühesten Morgenstunden. Ich setze mich ins erste Abteil und stelle mich schlafend ...

Ich luge hinaus und sehe plötzlich unseren Zug. Wir sind wieder auf dem Bahnhof, wo wir vorhin gehalten haben! Was ist hier geschehen? Ich sehe die dicke Frau, wie sie sich aus dem Fenster unseres Abteils neigt. Der Zug ist noch in Bewegung, ich springe ab und laufe zu unserem hin. Die dicke Frau sieht mich entsetzt an. Woher kann ich denn jetzt mit einem anderen Zug ankommen? Sie versteht es nicht. Ich auch nicht. Paul schläft noch und wird nie erfahren, was mir widerfahren ist.

Erlebt in den 1920er Jahren, aufgeschrieben vor 1953 von Gabor von Vaszary in seinem Roman "Zwei gegen Paris". Wer Vaszary war, habe ich hier schon einmal erklärt. Ich bewundere seine Selbstironie. Vaszarys bekanntester Roman ist "Monpti", er wurde mit Romy Schneider verfilmt und man kriegt ihn im Buchhandel.

2 Kommentare:

  1. ...ein wenig kafkaesk...
    Und Kafka mag ich nicht besonders, da bin ich total deutschlehrer- und lehrplangeschädigt.
    Allerdings muss ich zugeben, dass die Schilderung meines Bruders über einen davongefahrenen Zug durchaus Parallelen aufwies - abgesehen von den bluthundähnlich agierenden Bahnbediensteten. Aber das kann daran liegen, dass er seinerzeit in der Schweiz den Anschluss verpasst hat und Schweizer neigen im Dienst nicht zum Sprint...
    LG
    Barbara

    P.S.: Nur so aus Neugierge: Hast du dein catfish-Mail-Postfach mal gecheckt?

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Hm, ich weiß nicht. Kafkaesk? Letztlich taugt Vaszary nicht zur Erschütterung menschlicher Existenz, dazu ist er insgesamt viel zu lieblich. Ich habe stets nur gelacht bei seiner Lektüre, nie gegruselt.

      Löschen